Futur & Präteritum
Neulich, ich komme gerade vom Tanken, treffe ich Leonardo. Es ist ein sonniger Tag, schon fast zu heiß und eigentlich bin ich sauer, über die schon wieder gestiegenen Benzinpreise. Aber Leonardo ist gut gelaunt. Er kommt großen Schrittes auf mich zu, begrüßt mich freudig und lädt mich zu ihm nach Hause ein. Er will mir unbedingt etwas Grandioses zeigen. Etwas unwillig gehe mit. Eigentlich will ich mich gerade bei ihm über die hohen Benzinpreise beschweren, aber die Begeisterung Leonardos gleicht die eines Jungen, der seinen ersten Papierflieger gebaut hat. Ich muss innerlich über meinen Vergleich schmunzeln, denn Da Vinci hat mit Sicherheit noch keinen Papierflieger gesehen. Aber Da Vinci ist schon ein lieber Kerl! Ich mag ihn. Seine kleine Villa am Rande von Paris kenne ich bereits. Wir gelangen nach kurzem Fußweg an. Höflich bittet er mich hinein. Geschwind eilen wir durch das zu große Haus und mit einem Leuchter in der Hand steigen wir die Stiegen herab. Auch sein Experimentierkeller ist mir durchaus vertraut. Die Stufen knarren geheimnisvoll. Die Luft ist etwas stickig und riecht nach Moder. Gerade sehe ich noch, wie sich eine kleine Maus vor dem Hausherren in Sicherheit bringt. Unten angekommen, stellt er mir begeistert gleich seine neueste Skizze vor. Eine verrückte Idee. Zumindest würden das Da Vinci's Zeitgenossen sagen. Mir zuckt es im Mund, Leonardo zu erzählen, dass seine scheinbar so verrückte Apparatur in späterer Zeit Hubschrauber genannt wird und völlig normal sein wird. Ich freue mich mit ihm und gemeinsam spinnen wir Gedanken, was mit solcher Apparatur denn alles möglich sein wird. Schnell merke ich, dass Da Vinci nur bruchstückhaft eine Ahnung davon hat, was denn alles einmal möglich sein wird. Wie wenig würden es da die Bauern oder die Mägde, geschweige denn die Obrigkeit seiner Zeit verstehen.
Aber es ist für mich immer wieder ein überraschendes Erlebnis, wie genau Da Vinci seine Umwelt beobachtet. Vieles kann er zwar nicht erklären, aber brillant beschreiben. Es ist die Gabe der sorgfältigen und genauen Beobachtung, die später mit der Technisierung immer mehr verloren gehen wird. Es macht mir immer wieder Freude, beispielsweise die Bauern in dieser Zeit zu beobachten. Sie haben ihre von Generation zu Generation überlieferten Erfahrungen in bezug auf das Wetter ihrer Region so präzisiert, dass sie sich darauf verlassen können. Und das tun sie, ohne dabei auf logische und belegbare Begründungen warten zu müssen. Sie würden jeden wissenschaftlichen Beweis nicht nur ablehnen, sondern auch über die verrückten Wissenschaftler und Ingenieure lächeln.
Inzwischen hat Leonardo eine staubige Flasche Rotwein hervorgezaubert. Mit einem „Plopp“ öffnet er den Burgunder und gießt die Zinnbecher randvoll.
„He“ versuche ich zu protestieren, „willst du mich niedersaufen?“
Verschmitzt funkeln Da Vinci's Augen die wortlos erwidern: „Auf so eine brillante, vielleicht auch ein bisschen verrückte Idee muss man doch anstoßen, oder.“
Mein Kopf dröhnt einen Sonnenaufgang später immer noch, wenn ich an unser Gelage denke. Denn es blieb keineswegs bei dieser einen Flasche Burgunder. Irgendwann sollte ich unbedingt noch von dem Selbstgebrannten probieren. Gebrannt hat er! Uff, ich war froh, mein Bett erreicht zu haben. Allerdings weiß ich nicht mehr, wie ich die Kellerstiegen wieder hoch gekommen bin. Ich habe immer noch den schaurig-schiefen Gesang eines gewissen betrunkenen Herrn Da Vinci im Ohr. Ich habe mich gekrümmt vor Lachen. Und nun, an diesem Morgen danach, liegt mir jedes Glas schwer im Magen. Eigentlich mehr im Kopf. Leonardo hat auch gute Witze erzählt, aber der hämmernde Kopf verbietet, mit ihm etwas nachzudenken. Ein kurzes Frühstück, in Form von heißer Milch mit etwas Honig, und die Postkutsche wartet auf mich. Ich schleppe mich hin. Und schon bei dem Gedanken an die Kopfsteinpflasterstraßen von Paris werde ich des ganzen Alkohols noch einmal gewahr. Mit den gleichartigen Rhythmen der schlecht gefederten Kutsche und dem Rest des Abends im Blut fällt es mir nicht schwer, tief und fest einzuschlafen. Schlafen, Schlafen, Schlafen...
„Das gibt's doch nicht, der schläft ja immer noch“ höre ich von ganz weit eine Männerstimme.
Langsam versuche ich, den Schlaf aus meinen Augen zu verbannen. Mir lacht Wolfgang Amadeus mit seinem kindlichen Gemüt entgegen.
„Du schläfst so lange, da kann ich das ganze Finale der Zauberflöte fertig schreiben! Aber es ist schön, dich wieder mal zu sehen!“
Mozart lässt mir kaum Gelegenheit, mich irgendwie zu rechtfertigen, schon sprudelt es aus ihm heraus:
„Hör mal zu! Hier will ich einen einfachen Vogelfänger singen lassen, was meinst du? Oder ist es nicht elegant genug? Aber wie soll ich eine Oper für einfache Leute schreiben, ohne ihnen zu nahe zu treten? Mit allen Harmonien bin ich auch noch nicht ganz einverstanden. Und sag mir, was du davon hältst. Aber ehrlich!“
Ich mag den Wiener Schmäh in Mozarts Wesen. Sogleich beginnt er, das Rezitativ auf dem Klavier zu skizzieren. Meine Ohren, geschweige denn mein Kopf, wissen noch nicht, was sie davon halten sollten. Mittendrin bricht er ab und nimmt wortlos den Griffel, um ein paar Noten zu verbessern und beginnt von vorn. Ja, denke ich, schon besser. Er ist völlig in seinem Element. Ich bin vergessen und spüre ergriffen die Fülle musikalischer Ideen, die zutage kommen wollen.
„Ach dieser Text ist doch nur ungehobelt, oder?“
Mozart erwartet gar keine Antwort von mir, die Frage ist an ihn selbst gerichtet. Immer wieder streicht er etwas durch. Und irgendwann reißt ihm der Geduldsfaden:
„Komm, lass uns in ein Kaffeehaus gehen! Ich bekomme heute nichts auf die Reihe.“
Er setzt sich seine Ausgehperücke auf und greift nach seinem Gehrock. Ich bin irgendwie immer noch nicht richtig da und habe eigentlich gar keine Lust auf Gesellschaft, aber die Art vom Wolferl lässt keine Widerrede zu. So nehmen wir langen Schrittes die Richtung des nächsten Kaffeehauses. Nannerl, Mozarts Schwester, ist auch mit. Es ist schön, auch mit einem normalen Menschen reden zu können. Mozart hätte zwar gegen diese despektierliche Äußerung Meinung rebelliert, aber er hört sie ja nicht. Und ich denke, Nannerl teilt meine Einschätzung. Obwohl sich bei mir manchmal die Vermutung aufdrängt, dass die permanente Nähe zu Genies auch ihre Spuren hinterlässt.
Im Kaffeehaus angekommen, beugt sich Mozart zu mir herüber und flüstert geheimnisvoll:
„Kann ich dir nicht den Text mal mitgeben, dass der Geheimrat drüberschauen könnte und mit ein paar Vorschlägen rüberkommt?“
„Du weißt doch,“ entgegne ich „dass ich nie weiß, wann ich bei wem lande. Wer weiß wie lange das dauert, bis ich bei Goethe war und wieder hier bin.“
Mozarts Stirn legt sich in Falten und er nickt fast unmerklich. „Du hast recht, hmm ärgerlich, aber nicht zu ändern. Zugegeben, es wären dann ja auch nicht meine Worte, es wäre nicht mein Stück. Na macht ja nichts, ich werd‘ den Text einfach noch mal überschlafen.“
Ich bestelle einen Einspänner und sehe mich um. Viel hat sich nicht verändert. Die Wirtin schaut immer noch genauso grimmig, immer einen Zechpreller erwartend. So manches Mal habe ich ihre Blicke erwidert, und zwar in dieser Art, wie ich mir einen Zechpreller vorstelle. Das verunsichert sie sichtlich. Und es war für mich jedes Mal ein Heidenspaß! Ihre Tochter, eigentlich viel zu jung zum Arbeiten, muss die Tische abräumen und hofft auf ein paar Schilling Trinkgeld. Immer wieder muss sie husten. Bei dem wabernden Qualm in dieser viel zu kleinen Kaschemme, kein Wunder.
Jaja, der Geheimrat, komme ich mit meinen Gedanken auf Mozarts Ansinnen zurück. Ich rechne kurz nach: Seit zweihundertdreiundfünfzig Jahren reise ich nun durch die Weltgeschichte und fünf Mal war ich schon bei Herrn Geheimrat Goethe. Aber so richtig warm werde ich mit ihm auch nicht. Ich weiß nicht was es ist, aber er hat manchmal eine verschlossene, geheimnisvolle und undurchsichtige Art, genau wie er seinen Doktor Fausto beschrieben hat. Oder beschreiben wird? Wann hat Goethe noch mal dieses Stück geschrieben? Manchmal komme ich mit den Zeiten richtig durcheinander!
Es ist mir vergönnt, ein paar Tage in Wien zu bleiben, es ist gerade Frühling. Eigentlich schon ein bisschen zu heiß für den jungen Lenz. Ich genieße vor allem die Nähe zu Nannerl. Mozarts Frau fühlt sich hin und wieder von ihrem Mann vernachlässigt und hinter seine Musik gesetzt. Oft bringt er das Geld für kleine Auftragslieder gar nicht erst nach Haus, sondern gleich in der Kneipe durch. Seine Saufkumpane sind ihr immer zutiefst suspekt. Und Mozart macht sich gewöhnlich mehr Gedanken, wie eine Arie den rechten Schluss bekommen kann oder warum das Holz in der Ouvertüre noch zu dominant ist, als sich um den alltäglichen Haushalt zu kümmern. Künstler! Manchmal ist es für Nannerl schier zum Verzweifeln. Und dann gehen wir oft und lang spazieren, wenn ich da bin. Sie sagt nie viel, aber ich spüre, dass ihr einfach meine Nähe hilft, ihre Sorgen zu vergessen. Wir genießen den Blick auf die Donau und sehen schweigend den Fiakern hinterher, die ratternd über die Straßen polterten.
Gerade höre ich noch die Peitsche knallen, da finde ich mich am Lagerfeuer sitzend wieder. Durchaus möglich, dass der Knall vom feuchten Holz kam. Eine sternklare Nacht empfängt mich, das Feuer knistert wohlig. Es ist eine Gruppe junger Menschen. Fast noch Kinder. Gedämpfter Stimme plaudern sie und erzählen sich zum Teil schmutzige Witze. Ich genieße die Wärme des offenen Feuers und die laue Nacht. Mir gegenüber entdecke ich den alten Mann. Obwohl ich mich an seinen Namen nicht mehr erinnern kann, weiß ich, dass ich mit ihm schon einiges erlebt habe. Mühsam setzt er sich bequemer hin. Er hat sich ein kleines Stühlchen mitgebracht. Ich schätze ihn so auf fünfundsiebzig, achtzig Jahre. Die Kinder lachen lauthals und halten sich sofort den Mund zu. Sie haben sicher irgend einen Blödsinn ausgesprochen, der eigentlich durch ihre Erziehung verboten ist. Ich schmunzle und denke so bei mir, dass sich in allen Zeiten die jungen Leute auch nicht ändern.
Es sind ganz typische Gesprächsthemen, die die Kinder beschäftigen: über Lehrer, Schule und das Wetteifern, wie lange jeder zu Hause aufbleiben darf. Dabei wird geflunkert, was die Phantasie hergibt. Ich bemerke, dass sich langsam, wie von Geisterhand, immer mehr eine Stille über das Lagerfeuer breitet. Nach und nach verstummen alle Gespräche. Zuerst kann ich die Ursache nicht ausmachen, aber dann höre ich, wie der Alte leise erzählt. Wortfetzen fliegen zu mir herüber. Ich bin neugierig, rappel mich hoch und rücke etwas näher an den Greis heran. Er redet mit den Älteren der Gruppe, leise und geheimnisvoll:
„Manchmal gibt es Zeiten, da muss man die Menschen nicht anschubsen, nach Veränderung zu streben. Das geht mit einem Male wie von selbst. Wie bei einer Lawine gerät mit einem Mal alles Vertraute in Bewegung. Es kann sein, dass Unterdrückung, die jahrzehntelang ertragen wurde, plötzlich unerträglich wird.“
Inzwischen ist alles mucksmäuschenstill geworden und jeder lauscht angestrengt.
„Da war ein ganzes Volk erfüllt von der ungewissen Ahnung, dass etwas passieren wird, dass etwas passieren musste. Es begann so wie ein Lagerfeuer. Zuerst sprang irgendwo ein Funke über und fand Trockenes und Dürres, fiel auf brennbaren Boden. Und plötzlich stand eine Welt in Flammen. Mit unglaublicher Dramatik erfasste eine Flamme der Hoffnung alles, spornte zu Heldentaten an, die vorher undenkbar schienen.“
Der Alte verstummt und in seinen Augen funkelten Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Oder ist es nur der flackernde Schein des Feuers? Ich kann es nicht ausmachen. Ein Junge wirft ein Holzscheit in die Glut. Wieder macht sich mit einem lauten Knack etwas Feuchtigkeit im Holz Luft. Der Schein wird heller, das neue Holz gibt dem Feuer Nahrung.
„Erzähl weiter“ raunte ein anderer Junge. Ein paar Mädchen rückten etwas näher an das Feuer. Sie liegen auf dem Rücken und während sie dem Alten lauschen. Dabei betrachten den Sternenhimmel.
„Tja“ hebt der Alte wieder an, „solch eine Stimmung ist kaum zu beschreiben, als ein ganzes Land innerhalb weniger Tage aufstand und alles Dagewesene in Frage stellt. Trotz der Angst, verhaftet, verhört und aus seiner Heimat ausgewiesen zu werden. Womöglich sah man seine Familie, die Freunde nie wieder“
Die Stimme des Alten keucht leise, alle anderen schweigen still. Die schlohweißen Haare heben sich deutlich vom nächtlichen Hintergrund ab.
„Geschieht so etwas öfter?“ brach ein Junge neugierig, aber skeptisch die Stille.
„Vielleicht alle hundert oder zweihundert Jahre. Als wir es erleben durften, war ich gerade mal so jung wie ihr. Damals hatten wir unsere Wäsche noch mit richtigem Wasser gewaschen.“ gibt der Alte zur Antwort.
Ein kleiner Naseweis fragt vorlaut: „Stimmt es, dass die Autos damals in England auf der falschen Seite gefahren sind?“
Gütig lächelnd nickt der Alte: „Jaja, es ist schon lange her. Viele haben schon so vieles vergessen. Aber ich will mich immer wieder daran erinnern! Denn dem ganzen Umbruch gingen vierzig Jahre Diktatur voraus. Ein halbes Leben. Immer und überall Überwachung. Selbst die Spitzel wurden bespitzelt! Wer nicht das machte, was der allgegenwärtige Staat wollte, musste mit allem Schlimmen rechnen. Weil aber dieser Leidensdruck ist so groß geworden ist, gab es einfach keinen anderen Ausweg. Und ein ganzes Volk ging auf die Straße. Klar waren bei den Demonstrationen auch die Spitzel dabei. Aber die Masse aufrechter Menschen mit Rückrat war so überwältigend! Ich habe erlebt, wie Tausende, denen Sprechchöre untersagt waren, einfach minutenlang geklatscht haben. Tausende, und alle spürten, das dies eindrucksvoller war, als irgendwelche Parolen gegen Staat und die damalige Partei mit dem absoluten Führungsanspruch. Ehrwürdige Mauern uralter Städte wurden Zeugen der Geburt einer unbändigen Kraft.“
Wieder macht der Alte eine bedeutungsschwere Pause. Eine Gänsehaut macht sich auf meiner Haut breit, dass ich mir fröstelnd die Arme reibe.
„Aber das Wichtigste war damals,“ fährt der Alte fort, „dass wir die DDR nicht mit Gewalt, sondern nur mit Kerzen und Gebeten besiegt haben. Die Herrscher hätten sicher auf Gewalt reagiert, hätten Panzer und Gewehre ins Feld geführt, aber mit dem friedlichen Protest eines ganzen Volkes, damit waren sie völlig überfordert. Er hat sie gelähmt, weil doch nicht sein durfte, was nicht sein konnte und so konnten wir Geschichte verändern!“ Verschmitzt und zufrieden lächelt der Alte.
Der Wind dreht ein wenig und der Qualm des zu feuchten Holzes zieht nun genau in meine Richtung. Ich muss niesen und der Aufseher brüllt mich an. Erst einmal muss ich mich zurecht finden, aber instinktiv versuche ich mich nicht zu rühren, denn immerhin stehe ich inmitten des Morgenappells irgendeines Lagers. Verwundert sehe ich die zerschlissene Sträflingskleidung an mir. Es muss ein deutsches Konzentrationslager sein. Ich war noch nie hier, stelle ich fest, und ein eiskalter Schauer rann mir über den Rücken. Das Atmen fällt mir zunehmend schwer. Aus Angst vor dieser unbekannten Erfahrung, wird mir schlecht. So Furchtbares habe ich schon über diese Zeit gehört. Manchmal hasse ich meine Zeitsprünge. Ich hasse sie!
„Durchzählen!“ gellt ein Schrei über den Platz.
Von fern, wie in einem Traum, beginnt jemand seine Nummer zu rufen.
„Hoffentlich ist er durchgekommen“ raunt mein Nachbar mir mit steinerner Miene zu. Ich werde aschfahl. Das lässt nichts Gutes erwarten. Soweit ich weiß, haben die Deutschen für jeden Geflohenen andere Gefangene erschossen. Vor Angst bin ich ganz starr. Perlen von Angstschweiß bahnen sich einen Weg über meine Schläfen. Die Reihe ist nun an mir und ohne nachzudenken rufe ich „2713!“ Die Zahlenreihe geht weiter und ich kann nicht feststellen, welcher Gefangene fehlen soll. Unmerklich lasse ich meinen Blick zu meinem Nachbar schweifen. Völlig ausgezehrt und erschöpft sieht er aus. Aber dennoch habe ich ihn auf irgendeinem Bild schon einmal gesehen. Bloß wo? Ich grüble, ob ich ihm schon einmal auf meiner Reise begegnet bin. Nein, nein, es muss ein Bild gewesen sein. Aber wer ist er?
Wir werden wieder in die Baracken befohlen. Ich schaue mich in der Holzbaracke um. Das alles ist so unwirklich hier. So gut es geht, werden die Baracken sauber gehalten. Alleine das ist eine Kunst. Völlig überfüllt, lässt sich kaum Ordnung halten. Ich verliere meinen Nachbarn vom Appell aus den Augen. Warum hat mich das Schicksal hierher geführt? Ich klettere in die dritte Etage der Pritschen und sinniere. Ich friere und vergeblich versuche ich, die nackten Füße mit irgendwas zu bedecken. „He, du...“ stupst mich jemand an den kalten Fuß, „du bist doch erst vor ein paar Tagen hergekommen! Jude oder ein Politischer? Wie ist es draußen?“ Ich erkenne in dem dämmrigen Licht der immerbrennenden Funzel meinen Nachbarn von vorhin. So richtig weiß ich nicht, was ich antworten soll. Aber er winkt ab und murmelt „Ach, schon gut. Bist du vielleicht Katholik? Christ? Ganz egal! Du kannst mit zu unseren geheimen Gottesdiensten kommen, wenn du willst. Ach ich hab‘ mich ja noch gar nicht vorgestellt: Kolbe, Pater Maximilian Kolbe, aber hier sagen alle nur Maximilian.“ Wie die Sonne plötzlich durch eine Wolkendecke brechen kann, so gehen mir die Augen auf. Mir wird klar, wieso ich meinen Nachbar erkannt habe. Wo ich ihn gesehen habe. Und sogleich wird mir ganz schlecht, denn ich weiß, was selbst Maximilian noch nicht wissen kann: die Umstände seines Endes. In meinen Gedanken korrigiere ich mich selbst... seines Martyriums. Immer noch sehen mich erwartungsvolle Augen an und ich presse zwischen den Zähnen hervor: „Ja, gern, natürlich...“ „Schön!“ lächelte Pater Kolbe und lässt mich mit meinen Gedanken allein.
Ich bin völlig überwältigt von den Gedanken an das Vergangene, dem Hier und Jetzt und der Zukunft, die so viele der hier Gefangenen bevorsteht. Trotz dieser widerlichen Umstände erfasst mich Ehrfurcht. Völlig durcheinander und verzweifelt wirbeln immer mehr Gedanken durch meinen Kopf. Leise beginne ich zu weinen. Immer heftiger werde ich von einem Weinkrampf erfasst, aber nur wenige nehmen ihn überhaupt wahr. Wahrscheinlich bricht hier viel zu oft einer nervlich zusammen, hier ist die Verzweiflung täglicher Gast.
Ich sehe mich plötzlich in der Situation, allen Umstehenden von der Zukunft zu erzählen zu können und vor allem zu wollen!. Der Verlauf des Krieges, den Sieg der Alliierten, die Teilung Deutschlands. Angesichts dieses Elends will alles aus mir heraussprudeln, will ich Hoffnung auf ein Ende der Qualen wecken. Vor allem will ich Pater Maximilian Kolbe umarmen und ihn feiern. Allen hier von seiner Tat erzählen! Bloß, er hat sich noch gar nicht zum Austausch für den zur Hinrichtung ausgewählten Familienvater angeboten und somit das Leben des jungen Mannes gerettet. Sicherlich hat sein Martyrium bereits begonnen, das teilt er hier schließlich mit zig Tausenden. Und diese Tat der wortwörtlichen Nächstenliebe, die Pater Kolbe so bekannt gemacht und geheiligt hat, hat er noch nicht getan. Wie würde das Wissen um den Verlauf der Geschichte dieselbe verändern? Würden die Gefangenen Hoffnung schöpfen oder über die Zahl der verbleibenden Tage in dieser Hölle zusammenbrechen? Auf meiner zumeist interessanten Reise habe ich mich schon öfter bei solchen Gedanken ertappt. Situationen wie diese machen diese Reise so unerträglich schwer.
Ich schlafe in dieser Nacht schwer und traumlos. Ich friere am ganzen Körper. Die schmale Pritsche lässt meinen Rücken schmerzen. Vielmehr aber schmerzt mein Kopf am anderen Morgen, sorgenvoll, voller ungeklärter Fragen und Angst. Quälende Angst, ob ich selbst aus dieser Marter, aus dieser Hölle wieder herausfinde. Das Essen verdient seinen Namen nicht. Und ich stochere nur drin herum. Ein ausgehungerter Mann, dessen Haut nur noch wie eine Folie jeden Knochen umspannt, sieht das und bittet mich um meine Portion. Schweigend überlasse ich sie ihm. Ich bekomme sowieso nichts runter. Der Brechreiz ist immer da. Die dankbaren Blicke, die der hungrige Mann mir zuwirft, haben trotz alledem eine so tiefe Zuneigung und Wärme, von der ich nicht erwartet hätte, sie an so einem Ort zu empfinden.
„Josef“ stellt er sich kurz vor und streckt mir seine dürre Hand hin, nachdem er meine Suppe gegessen hat. Seine Stimme ist müde und klingt krank. „Angenehm, Sebastian!“ stelle auch ich mich ihm vor. Wir kommen ins Gespräch, leise sprechen wir miteinander. Auch bei ihm die erste Frage nach dem „Draußen“. Er hat einen liebenswürdigen Dialekt. Ich tippe auf die Pfalz. Aber ihn danach zu fragen, erscheint mir zu banal. Er erzählt von seinen beiden Kindern, Liesel und Hans. Dabei stehen ihm die Tränen in den Augen. Er hat sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Eine ganz dicke Träne bahnt sich ihren Weg durch das zerfurchte Gesicht, als er von seiner Frau Gretel erzählt.
„Eigentlich heißt sie ja Margarete, aber niemand nennt sie so. Die Kinder würden gar nicht wissen, wer gemeint ist.“
Ein versonnenes Lächeln bringt ihm seine Frau in diesem Augenblick ein Stück näher. Er verstummt und ergriffen schweige auch ich. Im Augenwinkel bemerke ich, wie Pater Kolbe scheinbar unbeteiligt jedem Wort folgt. Auch er lässt sich fesseln, von Josefs Erzählungen, die von so viel Liebe zu seiner Familie leben.
Die Tür wird wütend aufgerissen und die Wache brüllt in die Baracke: „2713 – raustreten!“ Ein Schlag fährt mir in den Magen, 2713... das bin ja ich... mir wird schwindelig, alles Blut weicht aus meinem Gesicht und ich muss mich übergeben. Da ich nichts gegessen hatte, ist es mehr Galle, was zum Vorschein kam. Wankend nähere ich mich den Wachen und schnappe noch einmal einen sorgenvollen Blick von Pater Maximilian Kolbe auf. Sie müssen mit mir etwas Besonderes vorhaben. Der Gedanke wird jäh von einem Schlag mit dem Gewehrkolben unterbrochen. Entweder habe ich den Wachen nicht schnell genug reagiert, oder es war ein grausames Ritual, dem man nicht entweichen kann. Ich schleppe mich durch die Tür, ich höre den Befehl: „Zum Lagerkommandanten!“ Der Weg wird weit, obwohl ich von Beginn an mein Ziel vor Augen habe. Überall begegnen mir skelettartige Menschen, die hier schlimmer als Tiere gehalten werden. Jeder weiß, dass sie auch weniger wert sind. Ihre Augen sind leer und stumpf, die Schultern tief gebeugt, fast jeder Wille scheint gebrochen.
Beim Lagerkommandanten angekommen werde ich durch das Vorzimmer gestoßen. Vor der Tür des Kommandanten muss ich warten. „Oberst Hans Schmidt.“ Einfach und nüchtern ist der Name des Kommandanten an der Tür angebracht. Jemand reißt die Tür auf und die Wachen stoßen mich hinein. Die Tür wird wieder zugeschlagen und ich stehe mit einem Sack Kartoffeln in der Hand inmitten von Susannes Wohnung.
„Du bist ja schon wieder zurück,“ ruft sie fröhlich aus der Küche. Ich sinke in die Knie.
„Sebastian?“ kommt sie mich fragend suchen, „Was um Himmels Willen ist denn geschehen? Du siehst ja schrecklich aus!“
Ich beginne schluchzend zu weinen und umarme sie, wimmernd bekomme ich kein Wort heraus. Alle Anspannung der letzten beiden Tage in dem Konzentrationslager macht sich mit einem Mal Luft. Es sind gar nicht so sehr die körperlichen Strapazen, sondern vielmehr die psychische Qual, ob ich dort je wieder rauskommen würde.
Sanft hilft mir Susanne hoch und begleitet mich schweigend auf das Sofa. Sie ahnt, dass mir auf meiner Reise etwas Schreckliches passiert sein muss. Ich bin wie gelähmt und bringe kein Wort heraus. Langsam, ganz langsam weicht der Todesangst dem Glück, dass ich diesem Alptraum entfliehen konnte. Wortlos reicht mir Susanne einen doppelten Cognac. Eigentlich ist es fast ein Dreifacher, aber das ist mir jetzt egal. Ganz auf Ex schaffe ich ihn nicht, ich muss einmal absetzen. „Du musst dir vorstellen, es war, also mitten in...“ druckse ich zusammenhangslos herum, „ich war in einem KZ!“ Ein ungläubiges Runzeln huscht über Susannes Gesicht. „Ja, wirklich! Ich war in demselben KZ wie Pater Maximilian Kolbe! Er war wirklich da!“ Die Anspannung ist immer noch nicht von mir gewichen. Susanne nimmt mich zärtlich in den Arm und sagt: „Ich mache dir jetzt schnell ein Spiegelei und dann versuchst du erst einmal, ein bisschen zu schlafen.“ Ein guter Vorschlag, den ich gerne annehme.
Ich versinke in einen Dämmerschlaf und viele Augenblicke aus dem KZ ziehen an meinem Auge vorbei. Instinktiv wehre ich mich dagegen, noch einmal davon auch nur zu träumen. Aber die Erlebnisse haben sich eingebrannt und sie lassen mich nicht so schnell los. Als ich nach drei Stunden unruhigen Schlafes wieder aufwache, ist die Abenddämmerung zu sehen. Ich hasse es, wenn ich aufwache und der Abend kommt. Völlig verdreht setze ich mich im Bett auf. Es dauert einen Augenblick, bis ich richtig zu mir komme. So wie ich bin, barfuss und in Unterhosen setze ich mich an meinen Computer und mache ihn an und logge mich ein. Ich suche mir jetzt mal im Internet ein paar Seiten über die Nazizeit, denke ich bei mir. Susanne streckt ihre süße Nase durch die Tür: „Du bist ja wieder wach!“ sagt sie. Sie setzt sich zu mir auf den Schoß und schaut mich an. Ihr vertrautes Gesicht lässt plötzlich alles aus mir herausbrechen. Ich erzähle ihr die Erlebnisse, die Begegnung mit Pater Kolbe und mit Josef, dem Familienvater und plötzlich durchzuckt es mich.
„Aber ja! Josef - der Familienvater! Es könnte gut sein, dass wenige Tage nach meinem Besuch gerade Josef durch Kolbes Großmut gerettet wird! Ja, das könnte gut sein...“
Susanne schaut mich nun völlig entgeistert an.
„Ja doch, Josef könnte genau der Familienvater sein, der durch Pater Kolbe gerettet wird!“
Plötzlich fügt sich in meinem Kopf alles logisch zusammen. Nun bedaure ich schon ein bisschen, dass ich wohl nie erfahren werde, ob Josef wirklich der Mensch war, den Pater Maximilian Kolbe gerettet hat. Aber ich kann nicht willkürlich durch die Geschichte der Welt reisen. Alles ist purer Zufall. Susanne schaut mich immer noch ziemlich unverständig an. Wir setzen uns auf den Balkon und ich erzähle ihr meine Vermutung. Ich versuche ihr all das zu erklären. Begeistert hört sie mir zu und letztendlich stimmt sie mir zu, was Josef und Maximilian angeht.
„Ach du Scheiße!“ rufe ich aus, „ich war die ganze Zeit im Internet eingeloggt!“ Einige alte Israeliten neben mir schauen mich irritiert an. Ich muss lachen, denn ich kann sehen, wie Moses gerade seine Siebensachen packt, morgen will er auf den Berg Sinai. Klar können die Israeliten nichts von Internet und Cyberspace wissen. Der braungebrannte Moses kommt im wiegenden Schritt eines Seemanns auf mich zu und nickt mir freundlich zu: „Na, wieder mal da?“ Er lädt mich in sein Zelt ein. Die Frauen haben Fladen gebacken. Frisches Fladenbrot mit Ziegenmilch ist köstlich. Moses ist wie immer zurückhaltend und freundlich, reicht mir ein bisschen Honig. „Du weißt,“ beginnt er leise mir zugewandt, „warum ich morgen auf den Berg Sinai klettere? Gott hat zu mir gesprochen, ich darf mich ihm nähern!“ Ich nicke, ich weiß es. Immerhin wird ihm dort oben auf dem Berg Gott begegnen. Moses ist dabei keineswegs euphorisch oder gar hysterisch. Nein, nein, voller Ehrfurcht denkt er an den morgigen Tag. Und ich beneide ihn nicht, die schweren Steintafeln durch das unwegsame Gelände schleppen zu müssen, ist sicher alles andere als eine leichte Aufgabe. Denn das letzte Stück ist auch für ein Maultier nicht mehr zu schaffen.
Am nächsten Morgen beginnt ein beeindruckend monumentales Schauspiel: Der Berg hüllt sich mehr und mehr in Rauch, die Erde zittert, es blitzt und donnert. Wüsste ich es nicht besser, würde ich bald an einem Vulkanausbruch denken. Ich bin bestürzt, wie genau die Bibel solche Naturgewalten beschreibt. Moses macht sich auf den Weg, so wie er es gesagt bekam. Alle anderen bleiben unten. Schließlich hat es uns Gott bei Strafe verboten, den Berg auch nur zu berühren, bis er es selbst gestattet. Immer kleiner wird der Punkt, den man vor Kurzem noch als Moses ausmachen konnte, bis er schließlich verschwunden ist. Das furchteinflößende Getöse des Berges legt sich wieder und die Israeliten beginnen bald, ihrem normalen Lagerleben nachzugehen. Es wird dauern, bis Moses wieder da ist, denke auch ich bei mir. Ich lege mich in den Schatten, die Mittagssonne nähert sich langsam dem Zenit.
Es dauert länger, denke ich, als ich zwei Tage drauf den Berg immer noch mit Qualm und Wolken verhüllt betrachtete. Von Moses weit und breit keine Spur. Die Kinder spielen lachend in dem Staub der Steppe. Ich höre, wie einige der Alten sich bei Aaron beschweren wollen.
„He du!“ spricht mich einer der Alten an, „warum bist du so schweigsam, was denkst du?“
Ich lümmle gerade an dem Platz, den ich zu meinem Lieblingsplatz auserkoren habe und denke nach.
„He du, hat dir die Sonne das Hirn vernebelt?“ wiederholt der Alte und lässt kein Ausweichen zu.
„Nein, nein,“ antworte ich, „ich denke, ihr solltet die Ruhe bewahren. Uns passiert hier doch nichts!“
„Aber nicht mehr lange,“ erwiderte der Alte, „und uns gehen die Vorräte aus! Moses hat uns aus Ägypten hergeführt und hat sich jetzt aus dem Staub der Steppe gemacht!“
„Er kommt schon wieder!“ versuche ich, etwas leichtfertig, zu beruhigen.
„Woher willst du das so genau wissen?“ fragt der Israelit gereizt.
Inzwischen haben sich immer mehr Neugierige dazu gesellt. Es sind bestimmt schon dreißig oder vierzig. Bei mir denke ich: am besten jetzt nichts sagen, vor allem nichts Falsches.
„Bist du etwa ein Prophet?“
„Ich werde mich hüten, mich selbst zu einem Prophet zu machen! Irgendwann meint dann jemand, er könne auch noch seinen eigenen Gott machen!“
Damit hoffte ich, alle Irrtümer beseitigt zu haben. Aber das betretene Schweigen der Umstehenden ließ nichts gutes erwarten. Einer greift die Idee auf:
„Ja, warum nicht? Lasst uns unseren Gott selbst machen!“
Diese Idee wurde mit kräftigem Nicken und allgemeinem Murmeln von immer mehr der Umstehenden für gut befunden. Meine Einwände verhallen ungehört und ich ahnte, was ich mit der unbedachten Bemerkung angestellt hatte.
Die Umstehenden gehen begeistert zu Aaron und unterbreiten ihm die Idee. Er wehrt sich zwar, aber die Mehrheit will sich ein Götterbildnis schaffen. Aaron hofft wohl, damit wieder Ruhe in die aufgebrachten Menschenmassen zu bekommen und lässt sich breitschlagen, bevor einige Hitzköpfe dasselbe sehr handgreiflich versuchen würden. Ich selbst versuche nicht, die Israeliten davon abzubringen, ich habe genug angerichtet. Und immerhin schien es sich wenigstens so zu erfüllen, wie es überliefert wurde. Sogleich entspinnt sich eine Diskussion über Art und Beschaffenheit des neuen Gottes. Und als irgend jemand etwas Gold hervorholt, ist Letzteres geklärt. Aaron lässt allen Goldschmuck, der so im Umlauf war, zusammentragen. Und er legt kurzerhand fest, dass es ein Stier wird. Aus welchen Gründen er nun gerade darauf gekommen ist, weiß ich nicht, ich habe auch keine Möglichkeit ihn zu fragen. Mehrere Feuer werden aufgeschichtet, andere beginnen sogleich, eine Gussform zu fertigen. Die Israeliten legen sich mächtig ins Zeug. Endlich sind sie vom Warten und Nichtstun befreit. Immer wieder höre ich die Bemerkung, dass sie jetzt ihr eigenes Schicksal gießen würden.
Nachdenklich gehe ich zurück zu meinem Lieblingsplatz. Ein bisschen nachdenklich setze ich mich und mache die Autotür zu. Ich stehe immer noch an der Tankstelle und ein Blick auf die Preise lässt alten Zorn wieder aufsteigen. Aber ich starte den Motor, lasse noch einen Radfahrer vorbei und fahre, ein bisschen müde noch, nach Hause.
(c) Sebastian Grund