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Ein wahres Weihnachtsmärchen

​

dem geneigten Leser

 

Es war einmal, und so fangen ja bekanntlich alle wahren Märchen an, also es war einmal in einer Zeit, in der der Schnee von gestern weiß liegen blieb. Der geneigte Leser wird feststellen, dass dies lange vor einer Zeit war, in der dieser Schnee dank Braunkohlekraftwerk bereits wenige Stunden nach Ankunft auf der Erde lichtgrau und dank des Treibhauseffektes keinen Tag lang liegen geblieben war.

 

Und in dieser eben beschriebenen Zeit kam es vor, dass meine Familie das Weihnachtsfest vorbereitet hat. Kurz darauf wurde es dann gefeiert. Und dies soll Gegenstand dieser hochwissenschaftlichen Abhandlung über interaktive im Allgemeinen und soziologische Zusammenhänge bei Vorbereitung und Durchführung eines wichtigen Familienfestes im Besonderen sein. Meist haben wir Weihnachten am Ende eines Jahres vorbereitet und wie schon erwähnt, kurz darauf auch gefeiert. Bei vielfältigen Gesprächen mit richtigen Erwachsenen habe ich festgestellt, dass dies auch in anderen Familien so Sitte ist. Ebenso ist es Sitte, dass diese Vorbereitungen eher an einen chaotischen Wettlauf mit der Zeit erinnern, die bereits seit mehreren Generationen mit penetranter Regelmäßigkeit nie ausreichend erscheinen. Dabei weiß jedes Kind, wann Weihnachten ist und dass es immer um dieselbe Zeit mit denselben Ritualen wiederkehrt. Außerdem konnte ich von den richtigen Erwachsenen erfahren, dass der Ablauf, soweit er sich doch verblüffend ähnelt, keineswegs auf eine Region beschränkt bleibt. Dabei verschärfte meine Heimat das bemerkenswerte Verhalten von Erwachsenen und Kindern am Ende eines Jahres.

 

Den letzten Satz kann ich leider nicht unkommentiert stehen lassen, da es für mein Erleben dieser regelmäßig wiederkehrenden Stegreif-Posse von einiger Bedeutung ist, wo ich diese Feierlichkeiten viele Jahre erleben durfte. Schon heute -Gott sei dank- muss man sich an eine Zeit erinnern, als der eiserne Vorhang in Wahrheit kein Vorhang war und trotzdem hinter ihm die Welt zu Ende war. Zumindest konnte bzw. durfte man sich kaum vorstellen, dass jeweils auf der anderen Seite dieses antifaschistischen Schutzwalls Menschen lebten! Und wir wohnten auf der Seite, wo man dieses schmucklose und überflüssige Bauwerk von innen betrachten musste. Von der anderen Seite kamen bereits immer Wochen vor dem Fest große, dicke, schwere Pakete. Ein untrügliches Zeichen: es weihnachtet! Die allerbeste Mutter steckte sogleich ihre Nase in die sogenannten “Westpäckel” hinein, und stöberte betört von dem den “Westpäckeln” so eigenen Duft von frischem Kaffee, Waschpulver und Mandelspekulatius, nach leicht verderblichen Geschenken. Denn entweder waren die Sachen wirklich verderblich oder notwendig, das Fest entsprechend vorzubereiten. Dieser Dinge fündig geworden, wurde das “Westpäckel” sofort von ihnen befreit und für uns stille, brave und liebreizende Buben unerreichbar im elterlichen Schlafzimmer versteckt. Da es ein Geheimnis ist, werde ich jetzt nicht erzählen, dass wir trotzdem hin und wieder Mittel und Wege gefunden haben...

 

Das Weihnachtsfest rückte unerbittlich näher. Und damit mehrten sich auch die Heimlichkeiten, die in diversen Kleiderschränken, Kellerregalen und Klavierböden versteckt wurden. Meist haben wir auch alle Geschenke in diesem Jahr wiedergefunden. Wenige Tage vor dem heiligsten aller Abende wurde ein Baum gekauft. Und da der DDR-erfahrene Leser weiß, dass wir im Inneren des realexistierenden Sozialismus lebten, kann er auch wissen, dass dies gelogen ist. Denn in aller Regel haben wir zwei Bäume gekauft: einen für die Höhe, den anderen für das Grün. Diese wurden später zusammengefügt, um dann doch einen ansehnlichen Baum vorhalten zu können.

 

So gerüstet kam der Morgen des Heiligen Abends. Nach dem Frühstück teilte sich die Familie in die klassischen Bereiche. Die Küchentür stand offen und dadurch konnte man die Frau des Hauses den Festschmaus zubereiten sehen. Währenddessen knieten wir Männer der Familie auf einem wackeligen Hocker und sinnierten, wie der zu dicke Stamm in den zu dünnen Ständer zu bekommen sei. Schon nach kurzer Zeit war klar: Sägen! Es folgten in bewährter Weise drei Arbeitsschritte: den Nachwuchs auf Werkzeugsuche schicken, Baum festhalten und wie in jedem Jahr das Ächzen des allerbesten Vaters, was immer dann zu hören war, wenn er qualitativ hochwertig arbeitete. Kurz darauf erschallte der erste verstimmte Ruf: “Du sollst festhalten, Junge!”. Erwähnter Junge mühte sich redlich, die Adern traten hervor, die Augen wurden groß und der Baum rollte immer noch hin und her. Nach einer weiteren Weile folgte der zweite Anschiss (der geneigte Leser möge mir dies verzeihen, aber es war ein Anschiss...): “Hhrrrr... Himmel, Arsch und Zwirn! Wer hat das Werkzeug so zur Minna gemacht?!?” Damit wurden alle Gespräche am Baum eingestellt. Der Nachwuchs ging still in sich und konnte beim besten Willen nicht feststellen, dass er irgend etwas mit dem Versagen der Säge zu tun haben könnte.

Naja, irgendwann, mit vielen Tricks und Kniffen, stand das Prachtstück. Es wurde begutachtet, ob er gerade war. Dazu wurde der Rat der allerbesten Mutter eingeholt und... natürlich, wie in jedem Jahr, war er schief. Der Versuch, den Baum mit kräftigen Stößen zu richten, brachte den gusseisernen Ständer zur Strecke. Als diese Phase des beginnenden Weihnachtsfestes erreicht war, hieß es für uns brave, stille und liebreizende Kinder, die Ohren einziehen, ein völlig neutrales Gesicht wählen und bloß nicht für irgend jemanden Partei ergreifen! Nach kurzem, aber lautem Wortgefecht zwischen beiden Allerbesten ist dann die Küchentür zu und die Stimmung endgültig im Eimer (wo eigentlich der kaputte Christbaumständer hingehören würde) und ähnelt eher den Außentemperaturen, will heißen: Sie tendiert um den Nullpunkt herum.

Die eher rhetorische Frage des allerbesten Vaters, wer denn in die Stadt mitkommen möchte, einen neuen Ständer zu kaufen, hatte sich wegen fehlender, überlegenswerter Alternativen bereits beantwortet. Also fahren wir zu viert einen Ständer kaufen. Denn selbst bei klirrenden Temperaturen ist dies die sicherste Variante, nicht Partei ergreifen zu müssen. Dieselbe Chronologie ließ sich bei defekten Lichterketten oder fehlenden Christbaumkugeln beobachten.

 

Als Kind erlag ich oft dem Irrtum, wir wären mit Sicherheit die einzigen, die noch in allerletzter Stunde versuchen würden, das Weihnachtsfest von defekten, fehlenden oder zerteilten Utensilien zu befreien und damit zu retten. Weit gefehlt: Überall sah man gebeugten Hauptes Familienväter die letzten Alternativen für Baumbeleuchtungen, Ständer oder verbranntes Festessen zu erwerben. Hinterdrein trotteten verdächtig still und folgsam die verstörten Kinder, die, wie wir, die Einkaufsalternative gewählt hatten. Auffällig lange blieben wir immer in den Geschäften, auch wenn unser Anliegen bereits mit einem empörten Kopfschütteln verneint wurde. Wollte der allerbeste Vater etwa Zeit schinden? “Zufällig” haben wir dann das eigentlich einzige Kaufhaus gefunden, welches nicht nur irgendeinen Weihnachtsbaumständer noch hatte, nein, nein: es waren auch noch zwei Varianten da! Versöhnlich fragte der allerbeste Vater, welche der beiden Ständer nun besser wäre. Ein durchschaubarer Versuch: wollte er doch seinen derzeit alleinigen Einfluss nutzen, um Punkte zu sammeln. Der kluge Nachwuchs roch diese familiäre Fallgrube mindestens zehn Christbaumständer gegen den Wind und versuchte für beide Varianten Vor- und Nachteile aufzuzählen, tunlichst vermeidend, Partei zu ergreifen.

Wir kamen in der elterlichen Wohnung an und teilten den Erfolg des Einkaufes mit völlig unschuldiger Miene der allerbesten Mutter mit. Die quittierte diese Mitteilung mit einem kurzen, wort- und blicklosen Nicken. Der Baum stand, des lieben Friedens willen einigte man sich darauf, dass der schiefe Baum gerade stand und das Mittagessen harrte seiner Vertilgung. Wie in jedem Jahr gab es Bratwurst und Sauerkraut. Leser mit zweifelsfrei schlesischen Vorfahren werden nun ein leichtes, unkontrollierbares Kopfschütteln an sich selbst feststellen: Ja, bei uns gab es bereits Mittag die Bratwürste nebst Sauerkraut. Das war untrüglich die Intervention meines Vaters, der geborener Weis' aus dem Brandenburger Land stammt und nur der lieben Liebe willen in unsere niederschlesische Stadt gezogen ist. Ihm war die Bratwurst nicht feierlich genug und über die Jahre hat es sich eingebürgert, dass zum Mittag der regionalen und am Abend der festlichen Tradition Rechnung getragen wurde. So wurde es über die Jahre hinweg üblich, dass wir festlich einen großen Broiler verdrückten. Jahre später, als wir liebreizenden Buben liebreizende Männer wurden, musste die allerbeste Mutter schon zwei Exemplare des auch als Brathähnchen bekannten Federviehs vorhalten. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, wir haben immer „Broiler“ gegessen.

 

Nach dem Essen schloss sich die gute Stube für viele, unerträglich lange Stunden. Jetzt war für uns Kinder die ungleich größte Spannung erreicht. Trotzdem wurden wir (wie jeden Sonn- und Feiertag) in die Küche gesteckt und erst wieder entlassen, wenn Geschirr, Töpfe, Herd und Fenster blitzblank waren. Nun gut, die Fenster sind geflunkert. Immer wieder geht geheimnisvoller Weise die Wohnzimmertür auf und zu, aber kein Blick dürfen wir riskieren. Wir fanden dieses Benehmen unser Eltern ziemlich kindisch, da wir uns nur zu gern selbst die Vorfreude genommen hätten.

Aber auch wir Kinder hatten da so unsere Methoden, die Allerbesten der Eltern zu quälen: Selbstverständlich sollten wir als kulturellen Höhepunkt des Abends, des Heiligen, unsere virtuosen Künste auf Violinen und Klavieren darbringen. Natürlich in Form weihnachtlicher immerbrauchbarer Gassenhauer. Da wir es das ganze Jahr hindurch standhaft vermieden haben, uns regelmäßig in der Kunst der Bedienung dieser Instrumente weiterzubilden, oder gar dieselben zu üben, wurde Letzteres auf diese letzten, entscheidenden Stunden verlegt. Wir übten, was die Saiten hergaben, in der Hoffnung, dass unser lautes Spielen nicht nur den Nachbarn, sondern auch dem Christkind vermitteln würde, welch fleißige Knäblein wir waren. Eher hatte wohl das Christkind ein Erbarmen mit unseren Eltern und Nachbarn oder es konnte selbst den Jammergesang der gequälten Instrumente nicht mehr ertragen... kurzum die Weihnachtslieder wurden mit dem Status “geht!” belegt und damit das lästige Üben eingestellt.

 

Um fortzufahren, muss ich wiederum einen kleinen Exkurs in unsere Familienhistorie machen. Denn innerhalb des eisernen Vorhangs war es nicht weit verbreitet, anderen religiösen Zeremonien als der sonntäglichen Autowäsche beizuwohnen. Meine Familie war da wiederum anders. Wie das ganze Jahr hindurch, war es uns auch und gerade am heiligsten der Abende ein Anliegen, unsere Schritte in die Kirche zu lenken. Um den Kindern das Warten zu verkürzen, sannen die Priester auf eine gar überzeugende List und öffneten ihre Kirchenpforten zu einer Kinderchristnacht bereits am späten Nachmittag. Es war bekannt, dass zu diesem Anlass die sonst übliche und gerade beschriebene Zurückhaltung der realexistierenden Genossen vor all dem, was auch nur im entferntesten an religiöse Handlungen erinnerte, gewichen war. So drängten sich weiter hinten in der kleinen Kirche Russisch-, Staatsbürgerkunde- und Lehrer des Marxismus-Leninismus gemischt mit allen aufrechten Christen in solchen Massen, die sonst nur an Verkaufsständen mit Bück-Dich-Waren zu finden waren.

Auch hier mag mir der Leser einen kleinen Ausflug in die Geschichte gestatten. Als Bück-Dich-Ware konnte man beispielsweise Lizenzschallplatten aus dem Westen unseres schönen Europas, Fliesen, Werkzeuge, elektrische Luxusgüter wie ein Farbfernseher mit Fernbedienung, kurz all das bezeichnen, was man ausschließlich unter dem Ladentisch verkaufen, beziehungsweise erwerben konnten. Notwendig dazu waren vor allem persönliche Kontakte mit der Verkäuferin. Aber wir schweifen vom Thema ab.

 

Nun ja... die Kinderchristnacht und unser Privileg unseres Ministranten-Daseins: es bescherte uns bereits Stunden vor der Bescherung einen lebhaften (was meinen Sie, wie lautstark sich Kinder realexistierender Genossen in einer Kirche zu Wort melden) und nicht alltäglichen Gottesdienst. Immerhin konnten wir trotz überfüllter Kirche das alljährliche Krippenspiel von der ersten Reihe aus beobachten. Wir lauschten gemeinsam den uns bereits geläufigen Zeilen: “In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl...” und der Chor mühte sich redlich, das “Trans e amus” zu Gehör zu bringen: Wahrlich, so konnte Weihnachten werden. Als Dank unseres allweihnachtlichen Ministrantendientes gab es traditionell eine große Tüte Weihnachtsgebäck. Die Nonnen des nahen Krankenhauses hatten sich ins Zeug gelegt, um die Massen dieser trockenen und bröseligen Leckerei zu zaubern. Wir kannten diese Köstlichkeiten bereits einige Jahre und wussten, dass uns diese bis kurz nach Ostern erhalten blieben würden. Sie eigneten sich hervorragend als Dämmstoff oder Unterlegscheiben für wackelnde Schränke. Allein die Geste war lieb und wichtig. Als es einige Jahre später einmal kein Gebäck gab, fehlte uns diese dankbare Aufmerksamkeit.

 

Der Heimweg nach der Kinderchristnacht verkürze sich um ein Drittel der sonst üblichen Zeit, weil wir uns ja ausrechnen konnten, dass sich das Christkind proportional zu unserer Ankunft zu Hause beeilen würde. Uns Geige spielenden Kindern kamen nun doch wieder Zweifel, ob die Qualität der mit dem Prädikat “geht!” bezeichneten Weihnachtsliedern der erhabenen Stimmung mithalten könnte. Deshalb zogen wir es vor, den Eltern, den Nachbarn und dem Christkind zu demonstrieren, wie ernst wir es meinten, und griffen in die Saiten und Tasten... und (ich erinnere mich genau) manchmal durften wir das Glück des richtigen Tons erfahren. Im Rückblick betrachtet, weiß ich nicht mehr, wer von den drei der zuvor genannten Zielgruppen am meisten gelitten hat. In der Zwischenzeit wurde dem größten, klavierspielenden Bruder vom allerbesten Vater beauftragt, doch schon mal die Weihnachtsgeschichte herauszusuchen.

 

Es wurde immer spannender und die Spannung unerträglich. Da fiel dem größten meiner allerbesten Brüder ein, dass er zwei, drei Geschenke noch nicht verpackt hatte. Urplötzlich erhob sich eine Art Hektik in unserem stets sterilen Kinderzimmer. Auch wir anderen beiden Brüder kontrollierten noch einmal hektisch das bereits mehrfach gebrauchte und aufgebügelte Geschenkpapier, das sich schon um unsere Geschenke wand. Auch das erhielt das Prädikat: “geht!”

Und dann: Dann war es soweit. Können Sie sich, lieber Leser, an diesen einzigartigen Moment erinnern und damit das kindliche Herzklopfen wieder hoch oben im Hals spüren? Gespannt lauschten drei Ohren direkt an der Tür, unglücklicherweise befanden sich damals unsere jeweils anderen Ohren an der jeweils anderen Seite des Kopfes. Da hat der liebe Gott ein bisschen gemurkst, wir hätten nämlich in der damaligen Situation gut alle Ohren auf einer Seite haben mögen. Richtige Erwachsene haben mir erzählt, dass dies auch außerhalb der hochheiligen Weihnachtszeit manchmal sehr brauchbar wäre. Ich habe auch schon eine Eingabe an den lieben Gott gemacht, aber bislang nicht erst eine Eingangsbestätigung erhalten.

 

“Es zischelt, es zischelt!” war dann der befreienden Ruf eines von uns liebreizenden Brüdern. Der Leser möge sich vorstellen, dass unsere allerbesten Eltern den Baum mit Wunderkerzen bestückten. Sie anzuzünden, damit der Baum so richtig festlich abbrennt, ging nur nacheinander und somit war das zunehmende Geräusch brennender Wunderkerzen das untrügliche Signal, “gleich wird es bimmeln und wir dürfen!” Und es bimmelte... und wer jetzt denkt, wir wären hineingestürmt, die Bäume, einen für die Höhe und den anderen für das Grün, umreißend zu den Geschenken hin, der irrt! Ganz ehrfürchtig, langsam und andächtig, zwei von uns Brüdern mit unseren Geigen unter dem einen Arm, die Notenständer unter dem anderen, und der dritte, klavierspielende und größte Bruder hob die Noten auf, die trotz aller Vorsicht wehend zu Boden sanken.

 

Wir wurden vor die Krippe drapiert, obwohl ja viel spannender war, durch die Form der Geschenke auf deren Inhalt zu schließen. Ach, da lugten auch alte Bekannte unter dem Christbaum hervor: die "Westpäckel" die wir mit meist eingeschnürten Händen von der Post abgeholt hatten, tauchten wieder auf! Monatelange Vorfreude steigerte nun einmal mehr die Sehnsucht. Die Krippe kannten wir schon von vorigen Jahren, es war derselbe Stall mit immer denselben Figuren: der Esel mit den abgebrochenen Ohren, die jedes Jahr neu angeklebt wurden, der Josef, der sich in Ermangelung eines Wanderstabes an einer etwas gebogenen Rouladennadel festhielt, genau wie der eine Hirte auch solch ein Gerät hatte, scheinbar gab's die irgendwo im Doppel billiger. Die Maria fand ich immer am schönsten. Warum weiß ich nicht, wahrscheinlich weil sie in all der weihnachtlichen Hektik so eine Ruhe ausstrahlte. Fast immer schaute sie dem Jesuskind ins Gesicht, nur einmal nicht, da hatte die allerbeste Mutter nicht aufgepasst und schon starrte Maria irgendwo nichtssagend auf den Boden des Stalles. Nach unserem Protest wurde dies natürlich korrigiert und sie lächelte gnädig wieder ihrem Jesulein zu. Übrigens hatte ich den Verdacht, dass das Jesulein in jedem Jahr etwas schelmischer, etwas spitzbübischer schmunzeln würde! Das machte mir den Kleinen ebenso Jahr um Jahr sympathischer. Die Heiligen Drei Könige standen wie in jedem Jahr hinter dem Stall, weil die ja erst am 6. Januar ankommen dürfen. Es war schon interessant zu beobachten, denn in jedem Jahr versuchten unsere allerbesten Eltern, die immer gleichen Figuren anders zu platzieren. Nur ein Hirt stand auf dem gesammelten Moos immer ziemlich wackelig und insgeheim schlossen wir schon Wetten ab, ob er sich im allerheiligsten Moment umfallend, schlafen legen würde.

 

Dann kam unsere beängstigende Aufgabe, die immergrünen Weihnachtslieder darzubringen: kratzend hielten wir unsere Geigenbögen auf der für den ersten Ton notwendigen (und – lieber Gott!!! – der hoffentlich richtigen) Stelle und einer tuschelte unhörbar “drei, vier” damit wir doch unterschiedlich begannen. Die nichtinstrumentierten Anwesenden begannen umgehend, in die Lieder einzustimmen. Es wurde manchmal besser als erwartet: zu beobachten dann, wenn unsere allerbeste Mutter in eine Ober- oder Unterstimme verfiel. Böse Zungen behaupten, sie könne alleine beide Stimmen gemeinsam singen, was ich aber noch nie beobachten konnte. Nach der kulturell hochwertigen Darbietung wurde der größte meiner beiden Brüder angestubst, er könne nun mit der Weihnachtsgeschichte beginnen: “In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl...” Hhm, dachte ich, hatten wir doch gerade erst! Ich entsinne mich dunkel, dass wenige Male auch ich der Ehre zuteil wurde, dies fehlerfrei vorzutragen. Das habe ich lange Zeit nicht verstanden, weil ich doch eigentlich dabei immer stehenblieb... von wegen vortragen! Als das und noch zwei, drei weitere immergrüne Weihnachtslieder beendet waren, wurde die allerbeste Mutter ungeduldig, wir sollten doch nun langsam “zum Punkt kommen!” Geschafft! Geschafft!

Jetzt noch schnell, aber herzlich alles Liebe, Gute und Gottes Segen gewünscht, Jahre später artete das immer in eine rechte Knutscherei aus... und dann war Bescherung! Mit viel und ehrlicher Freude wurden die Geschenke entdeckt, das neue Feuerwehrauto gleich auseinandergenommen und kaputt gemacht. Bald durchströmte die ganze Wohnung ein den “Westpäckeln” so eigenen Duft, nach frischem Kaffee, Waschpulver und Mandelspekulatius. Es war schön, von so vielen, so lieben Menschen bedacht zu werden.

 

Und wenn wir nicht gestorben sind, denn so enden ja bekanntlich alle wahren Märchen, und wenn wir nicht gestorben sind, dann weihnachtet es auch heute noch so oder ähnlich in vielen Familien und auch das nächste Weihnachtsfest wird so oder ähnlich ablaufen.

 

(c) Sebastian Grund

Haushalt 1
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